Kopfschütteln und völliges Unverständnis bei Naturschützern*innen hat die Absicht des Marburger Oberbürgermeisters hervorgerufen die südliche Lahn Aue im Bereich des „Cappler Feld“ als Gewerbegebiet in den neuen Regionalplan aufzunehmen und damit eine künftige Versiegelung in einem ausgewiesenem Vorranggebiet für den vorbeugenden Hochwasserschutz zu planen.
„Nach Auffassung der Stadt Marburg sollte das Gebiet südlich der Südspange in den Regionalplan aufgenommen werden“ (OP19.01.22)
Der NABU Marburg fragt, ob es zu dieser Aussage des Oberbürgermeisters irgendeine Legitimation durch ein parlamentarisches Gremium der Stadt Marburg gebe. Es kann doch nicht sein, dass man vor dem Hintergrund der Ereignisse im Ahrtal eine solche Forderung aus einer Stadtverwaltung heraus in den Raum stellt.
Unvorstellbar in einer Stadt, die sich in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat:
„Zur Anpassung an die zu erwartenden lokalen Folgen des Klimawandels, die Marburg mit abnehmenden Grundwasserressourcen und zunehmenden Starkniederschlägen konfrontieren.
Wir werden …
…die noch vorhandenen Hochwasserstauräume sichern und wo möglich neue Retentions- bzw. Überflutungsflächen schaffen (z.B. durch Deichrückverlegung) und die unter wesentlicher Beteiligung der Stadt Marburg im Ohmgebiet angelegten Hochwasserrückhaltungen ausbauen, das Hochwasserrisikomanagement erweitern, potenzielle Fließpfade bei Extremniederschlagsereignissen ermitteln lassen (z.B. durch Starkregengefahrenkarten) und durch intensive Öffentlichkeitsarbeit bekannt machen (z.B. durch Risikokommunikation).“ (aus: Koalitionsvertrag von SPD, GRÜNE, Klimaliste, Marburger Linke)
Eine Ausweisung dieses Gebietes widerspricht nach Auffassung des NABU zudem den Projektzielen von „Living Lahn“:
„Das Projekt „LiLa Living Lahn“ wird gefördert durch das EU-Umweltförderprogramm LIFE. Es hat am 01.12.2015 begonnen und läuft über einen Zeitraum von 10 Jahren bis zum 30.11.2025. Das Projektbudget beträgt rund 15,7 Mio. Euro, mit einem Förderanteil durch die EU in Höhe von rund 8,5 Mio. Euro…
Die im Projekt geplanten Maßnahmen beschäftigen sich v.a. damit, das "gute ökologische Potential" der Lahn wiederherzustellen, wie dies gemäß des Bewirtschaftungsplanes zur Umsetzung der Wasserrahmen-Richtlinie (WRRL) vorgesehen ist. Dabei gilt es, die Belange der Schifffahrt und anderer konkurrierender Nutzungen nach Möglichkeit mit den ökologischen Anforderungen, wie z.B. der Wiederherstellung von naturnahen Ufern, Auenbereiche und der linearen Durchgängigkeit, zu vereinen“ (aus: www. LiLa Living Lahn.de)
So wurde erst kürzlich die „Gisselberger Spannweite“, die wenige hundert Meter südlich des diskutierten Gebietes liegt, für 1,8 Millionen Euro renaturiert:
„Dieser renaturierte Lahnabschnitt leistet einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz und für die Artenvielfalt in unserer Region. Menschen, die dort spazieren gehen, bitten wir, sich umsichtig zu verhalten, um Tiere und Pflanzen nicht zu stören oder gefährden.“ Die Renaturierung der städtischen Flächen entlang der Lahn hat die Stadt Marburg angestoßen, das Regierungspräsidium Gießen willigte ein. Die Kosten von etwa 1,8 Millionen Euro werden aus Mitteln des Landes Hessen und des EU-LIFE-Projektes „Living Lahn – ein Fluss, viele Ansprüche“ finanziert.“ (www.stadt Marburg.de)
Fatale Folgen für die Umwelt
Die von Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies propagierten Pläne widersprechen nicht nur einer glaubwürdigen Strategie zur Klimaanpassung. Andere Umweltmedien werden von den Plänen auch stark und teilweise unwiederbringlich beeinträchtigt. Zu nennen sind insbesondere
Lebensräume für Flora und Fauna, die bereits bestehen oder durch Renaturierungsmaßnahmen (bspw. Living Lahn) geschaffen wurden, sowie Naherholungsräume für die ohnehin dicht besiedelte Stadt werden zerstört.
Letztlich: Eine Hochwasserschutzmaßnahme wie das Ohm-Rückhaltebecken durch die Schaffung neuer bebauter Problembereiche an der Lahn zu konterkarieren mutet doch mehr als absurd an.
Alles in allem fehlt es dem Plan des Oberbürgermeisters an guten und substanziellen Argumenten. Eine derartige Gewerbegebietsausweisung gehört einer altbackenen Politik von gestern an, die die drängendsten Probleme der Zeit offenbar immer noch nicht begriffen hat. Nachhaltigkeit und Enkeltauglichkeit sehen aus NABU Sicht ganz anders aus.
In diesem Zusammenhang ist es auch überfällig, nicht mehr zeitgemäße Gewohnheiten zu hinterfragen: So sollte die übliche Flächenverschwendung in Gewerbegebieten endlich ein Ende finden. Die durch die Baubehörden genehmigten eingeschossigen Bauten, insbesondere Einkaufs- und Baumärkte mit ihren ausufernden Parkflächen, bergen enorme Flächeneinsparungspotentiale in sich, worauf der NABU schon mehr als einmal hingewiesen hat. Hier erwarten wir eine zeitnahe Veränderung in den betroffenen Planungs- und Genehmigungsverfahren, um die ohnehin knappen Flächen endlich einer effizienteren Nutzung zuzuführen und vorschnelle Neuausweisungen zu verhindern.
NABU-3 Stufen-Plan für den Hochwasserschutz
Der Plan des NABU zum nachhaltigen Hochwasserschutz gliedert sich innerhalb der nächsten 50 Jahre in drei Stufen. In der ersten Stufe soll es vor allem keine Neubebauung in Überschwemmungsgebieten mehr geben, Bachbegradigungen sowie ähnliche Maßnahmen der Abflussbeschleunigung müssen gestoppt werden und es darf zu keinerlei Reduzierung von natürlichen Überflutungsbereichen mehr kommen. In den weiteren Schritten fordert der NABU unter anderem den Rückbau von Deichen, die nicht dem Schutz von Bebauung oder Infrastruktur dienen und die Etablierung von Entwicklungskorridoren entlang der Gewässer in denen eine naturnahe und eigendynamische Gewässerentwicklung Vorrang vor allen anderen Nutzungen hat. Letztendlich brauchen unsere Flüsse wieder genügend Raum mit einer naturnahen Auenlandschaft. Nur so lässt sich Hochwasserschutz langfristig kosteneffizient verwirklichen.
Der NABU Marburg wird sich in dem aktuellen Offenlegungsverfahren des neuen Regionalplans Mittelhessen gegenüber dem Regierungspräsidium und der Regionalversammlung entschieden gegen eine Ausweisung im Bereich des „Cappler Feld“ als Gewerbegebiet zur Wehr setzen.
Foto: Hartmut Möller
Ein Trampelpfad verläuft auf dem „Hochwasserschutzdamm – Reiten ist wegen Beschädigungsgefahr untersagt – Magistrat-Bauamt“
Grünes Dreieck-Schild: „Landschaftsschutzgebiet“
Förmliche Beteiligung zum Regionalplan Mittelhessen -
Stellungnahme Naturschutzbund NABU-Marburg e.V.
und Aktionsgemeinschaft Rettet den Burgwald e.V.
Betroffene Industrie- und Gewerbegebiete:
- G322 (Gemarkung Moischt/Ebsdorfergrund)
- G308 und G309 (Gemarkung Cappel)
Das geplante Industrie- und Gewerbegebiet G322 Auf dem Hohnes
Der Nabu Cappel e.V. ist Eigentümer einer ca. 0,4 ha großen Streuobstwiese in der Gemarkung Ebsdorfergrund. Diese Streuobstwiese soll lt. dem Entwurf des Regionalentwicklungsplanes Mittelhessen in ein Industrie- und Gewerbegebiet umgewandelt werden (G322).
Das Gelände der Streuobstwiese stellt im Verbund mit einer direkt angrenzenden Brachwiese, einer Eselweide und einem Naturgarten mit Imkerei ein wertvolles, schützenswertes Biotop dar. Seit 1993 betreibt die Nabu Cappel hier gelebten Naturschutz zugunsten der Tier- und Pflanzenwelt. Über 50 Obstbäume alter, widerstandsfähiger Sorten wurden hier angepflanzt und prägen diese Kulturlandschaft maßgeblich. Eine Totholzhecke bietet vielen Vögeln, Kleinsäugetieren und Insekten Deckung und Unterschlupf.
Das Gelände bietet zudem zahlreichen Spaziergängern und Besuchern die Gelegenheit die Natur vor ihrer Haustür kennenzulernen.
Zahlreiche seltene und in ihrem Bestand rückläufige Tierarten sind hier zu finden.
Dazu zählen zum Beispiel:
- Feldhase
- Steinkauz
- Rebhuhn
- Hermelin
- Haselmaus
- Rötelmaus
- Zauneidechse
Hervorzuheben ist hier die Ansiedlung des Steinkauzes, welcher nach Anlegen von Nisthöhlen seit 2015 auf unserer Wiese heimisch ist. Ein Rebhuhnpaar ist regelmäßiger Gast auf dem Gelände.
Folgende Singvögel brüten auf der Streuobstwiese oder der unmittelbarer Umgebung:
- Goldammer
- Feldlerche
- Gartenrotschwanz
- Feldsperling
- Kohlmeise
- Blaumeise
- Grünspecht
- Nachtigall
- Rotkehlchen
- Amsel
- Schafstelze
Häufig zu beobachtende Vögel sind außerdem der Rotmilan, Mäusebussard, Kolkrabe, Sperber und Buntspecht.
Seltene Schmetterlingsarten und andere Insekten sind hier zu finden.
Dazu zählen zum Beispiel:
- Schwalbenschwanz
- Schachbrett
- Gemeiner Bläuling
- Admiral
- Kleines Wiesenvögelchen
- Rotgefleckte Raupenfliege
- Trauer-Rosenkäfer
- Brauner Feuerfalter
Bei Umsetzung des aktuellen Regionalplans würde dieses einzigartige Biotop zerstört werden. Dieses wurde durch unsere Mitglieder in jahrelanger ehrenamtlicher Arbeit aufgebaut. Für unseren Verein wäre dies eine nicht akzeptable Herabwürdigung vieler geleisteter Arbeitsstunden. Gerade in Zeiten von gesteigertem Natur- und Umweltbewusstsein sollte die freiwillige Arbeit im Naturschutz wertgeschätzt werden.
Auch ließe sich durch eine Ausweichfläche kein Ersatz für die bestehende Streuobstwiese herstellen. Ein Gelände wie dieses würde viele Jahre für eine Entwicklung mit einem gleichwertigen ökologischen Nutzen benötigen.
Die Gewerbe- und Industriefläche G322 muss hinsichtlich Ihrer Eignung einer gründlichen und unvoreingenommenen naturschutzfachlichen Bewertung unterzogen werden. Naturschutz und Naherholungsmöglichkeiten sollten gleichrangig wie wirtschaftliche Interessen behandelt werden. Die Nabu Streuobstwiese ist ein wertvoller Bestandteil des Biotopkomplexes Auf dem Hohnes und daher unbedingt erhaltenswert.
Das geplante Gewerbegebiet G308 und G309 in Cappel
Die Nabu Gruppe Cappel spricht sich vehement gegen eine Ausweitung des bestehenden Gewerbegebiet Cappel aus. Die dort noch vorhandenen Wiesen- und Brachflächen stellen ein wertvolles Erholungsgebiet für Mensch und Tier dar.
- Durch die Umwandlung in ein Gewerbegebiet gehen weitere landwirtschaftliche Flächen verloren und werden versiegelt. Schäden, die durch Starkregen und Hochwasser eintreten, sind nicht absehbar.
- Für eine erforderliche zusätzliche verkehrstechnische Anbindung an die B3 würde die schon sehr knapp bemessene zur Verfügung stehende Fläche G308 und G309 nicht ausreichen. Die Bauarbeiten würden außerdem zu einer nicht unerheblichen Lärm- und Umweltbelastung führen.
- Die vorhanden Wiesen- und Heckenflächen bieten vielen Vogelarten Rückzugsraum und Brutstätte. Die in Cappel noch vorhandenen Rauch- und Mehlschwalben hätten ohne diese Offenlandfläche keine Jagdmöglichkeit und würden auf Dauer verschwinden.
- Der Naherholungswert für die Cappeler Bürger würde entfallen. Das Gebiet wird aktuell durch zahlreiche Radfahrer, Laufsportler und Spaziergänger genutzt. Vergleichbare Ausweichflächen im Nahbereich von Cappel sind nicht vorhanden.
Wie nach Offenlegung des Regionalplanes bekannt wurde, plant der Marburger Oberbürgermeister Dr. Spies ein weiteres Industrie- und Gewerbegebiet im Cappeler Feld (siehe Bericht in der Oberhessischen Presse vom 19.01.2022). Hiervon ist südlich der Südspange eine überdimensionierte Fläche in einem ausgewiesenen Hochwasserschutzgebiet betroffen. Wie sich eine Bodenversiegelung in einem Hochwasserschutzgebiet auswirkt, kann sich jeder vorstellen. Wir haben in der jüngsten Vergangenheit im Ahrtal dazu sehr schmerzhafte Erfahrungen erleben müssen. Auch ein ausreichender Schutz durch das Hochwasserrückhaltebeckens Kirchhain/Ohm ist rein spekulativ und entbehrt jeder Grundlage.
Das Vorhaben des Oberbürgermeisters erfüllt unsere Mitglieder mit völliger Verständnis- und Fassungslosigkeit. Die Nabu Cappel setzt sich für den Erhalt der Wiesen- und Auenflächen ein und wird sich entschieden dafür einsetzen, das geplante Gewerbegebiet im Cappeler Feld zu verhindern.
Fotos. Hartmut Möller